Die Paradeiser kommen aus dem Paradies

Je älter ich werde, desto besser verstehe ich, welch großen, prägenden Einfluss meine Familie auch auf mein kulinarisches Leben genommen hat. Weit über meine konkreten Essgewohnheiten hinaus habe ich vieles, was im weiteren Sinne mit Genuss zu tun hat, von meinem Vater übernommen: seine Großzügigkeit, seine Gastfreundschaft, seine Begeisterung für gute Zutaten, aber vor allem seine Leidenschaft für Gemüseanbau im eigenen Garten. Auch meine Neigung, den Umgang mit Lebensmitteln nahezu obsessiv perfektionieren zu wollen, habe ich von ihm geerbt. 

Ich erinnere mich an eine Armada von kleinen Tomatenpflänzchen, die jeweils im zeitigen Frühjahr auf dem Fensterbrett im warmen Wohnzimmer standen und täglich begutachtet und bewässert wurden. Im Mai, nach dem letzten Frost, pflanzte mein Vater sie schließlich ins Freie, band sie hoch, geizte sie aus. Im Hochsommer kamen die Früchte frisch geerntet, noch sonnengewärmt aufgeschnitten, als Salat auf den Tisch. Schon damals war Tomatensalat mein liebstes Sommeressen, ein wenig Salz, ein wenig Öl, mehr braucht es nicht, um die Sonne auf einem Teller einzufangen.

All diese Erinnerungen fallen mir ein, wenn ich meine diesjährige Tomatensaison Revue passieren lasse. Diese begann bereits im Herbst des letzten Jahres, als ich von den geschmacksintensivsten und schönsten Tomaten aus meinem Garten von jeder Sorte ein paar Kerne in ein Wasserglas gab. Lässt man sie so ein paar Tage stehen, löst sich das Gallertartige um die Kerne herum, die sich dann gut trocknen lassen, bis man sie ab etwa Mitte März erneut in die Erde stecken wird.

Eigentlich müsste jedem klar sein, dass es Tomaten nicht das ganze Jahr zu kaufen geben kann. Zumindest keine wirklich schmackhaften, die in der Erde wachsen und unter Sonnenlicht reifen. Richtig gute Tomaten gibt es in unseren Breitengraden nur im August und September. 

Doch der Appetit auf Tomaten ist bei den Deutschen das ganze Jahr über riesengroß. Laut Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung sind Tomaten mit einem jährlichen Verzehr von 27 Kilogramm pro Person das beliebteste Gemüse des Landes. Ich frage mich, wie erst der Verbrauch nach oben schnellen würde, wenn man anstelle der wässrig schmeckenden Einheitstomaten von gleicher Größe und gleich mattem Rot-Ton wieder die ganze Vielfalt vollreifer Tomatensorten flächendeckend auf die Märkte brächte? Solche Tomaten, die den Namen Paradeiser oder Pomo d’oro – Goldapfel – wirklich verdienen.
Stattdessen versuchen internationale Agrarkonzerne seit Jahrzehnten den Bauern ihr genetisch uniformes, auf Gewicht und einheitliche Optik hin gezüchtetes Hybrid-Saatgut zu verkaufen. Tomaten, die aus solchem Saatgut wachsen, entwickeln keine Samen, aus denen man im nächsten Jahr wieder Tomatenpflänzchen anziehen könnte. Das ist volle Absicht, so verdienen die Konzerne jedes Jahr neu am Verkauf ihres Saatguts. 

Für die Landwirte bringt dieser Deal zwar Planungssicherheit, aber auch ungute Abhängigkeiten. Und viele sind nicht mehr in der Lage, alte aromareiche Sorten anzubauen oder selbst zu vermehren. Dabei ist gerade die Verwandlung eines winzigen Samenkorns zu einer mächtigen Pflanze mit tollen Früchten so faszinierend und befriedigend zugleich. Dies gelingt im Übrigen auch in einer kleinen Ecke auf einem kleinen Balkon!

Natürlich tragen wir Verbraucherinnen und Verbraucher eine Mitverantwortung an dieser Entwicklung, solange wir lange Haltbarkeit, gute Transportfähigkeit, bequemes Essen (Stichwort: „kernlos“) und schönes Aussehen über den guten Geschmack stellen.

Wer sich nach dem ursprünglichen, vielfältigen, süß-säuerlichen Geschmack der Tomate sehnt, oder ihn kennenlernen möchte, sollte gerade dieser Tage auf den Wochenmärkten nach samenfesten Sorten Ausschau halten, am besten in Bioqualität. Da gibt es große Fleischtomaten, winzig kleine Buschtomaten, Strauchtomaten, ovale San-Marzano-Tomaten (die, weil sie leicht mehlig sind, besser in einem Sugo schmecken), grüne Tomaten, die aber trotzdem voll reif sind, gelbe, braune, gestreifte und fast schwarze Tomaten. 

Allein in meinem Garten sind dieses Jahr 35 verschiedene Tomatensorten herangereift. Einige der Pflanzen habe ich im Mai bei Irina Zacharias gekauft, die ich jedes Frühjahr besuche. Sie ist unter Tomaten-Aficionadas landesweit dafür bekannt, in der Oberpfalz besondere alte Tomatensorten aus ihrer russischen Heimat anzubauen. Bei ihr gedeihen auch andere Nachtschattengewächse wie Paprika, Auberginen und Chilis. 

Nachtschatten bzw. Nacht-Schaden kommt übrigens von der Vorstellung, dass der Genuss dieser Pflanzen Albträume verursacht. Davon habe ich noch nie etwas gemerkt. Aber ein erhöhtes Suchtpotenzial nach immer mehr unterschiedlich schmeckenden Sorten kann ich sehr wohl bestätigen.

TOMATENSALAT

ZUTATEN

Zwei, drei Tomaten alter Tomatensorten, wie z.B.
Berner Rose
Italienisches Ochsenherz
Green Moldovan
Ananas Noire
Gelbe Dattelwein
 
Für die Vinaigrette:
1 Knoblauchzehe
Etwas Fleur de Sel
Saft einer Zitrone
4 Eßl. Bestes Olivenöl z.B. aus Ligurien
½ grüne Chilischote

ZUBEREITUNG

Die Tomaten schneide ich mit einem sehr scharfen Messer (keinem Sägemesser) quer in schmale Scheiben bis zum Stielansatz, besonders klobige Tomaten schneide ich in Spalten. Alles Grüne vom Stiel schneide ich aus.

Die Knoblauchzehe schälen und in kleine Stücke schneiden. Darauf etwas Fleur de Sel streuen und mit einer breiten Messerklinge den Knoblauch zu Mus zermahlen. Den Knoblauchbrei mit Zitronensaft und Olivenöl mit dem 
Pürierstab aufmixen und zum Schluss ein wenig – je nach Schärfegrad – klein geschnittene Chilischote dazugeben.

Die Vinaigrette auf die Teller träufeln und darauf die Scheiben und Spalten der Tomaten anrichten. Am besten noch etwas Olivenöl, Fleur de Sel und frisch gebackenes Sauerteigbaguette zur Tomate servieren.

GUT ZU WISSEN

Schärfe:
Tomate und Pfeffer ist für mich keine gute Kombination. Chili finde ich als begleitende Schärfe viel passender.


Säure:
Der dunkle Balsamicoessig verfärbt Tomaten oftmals unschön. Eine bessere Säurebegleitung ist für mich frisch gepresster Zitronensaft, den ich mit Olivenöl mit dem Pürierstab aufmixe. Die Emulsion gebe ich nicht auf die Tomate, sondern zunächst auf den Teller und darauf lege ich die Tomatenscheiben.
Aufbewahren:
Tomaten gehören in keinem Fall in den Kühlschrank. Sie verlieren dort ihr Aroma!


Wein:
Ein dezent gekühlter Sangiovese aus der Toskana oder der Emilia Romagna passt wunderbar zur süßen Säure der Tomaten.

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