Das verkannte Kraut

Der Winter war für mich als Kind erst dann endgültig vorbei, sobald ich anstelle der kratzigen Strumpfhosen endlich wieder barfuß laufen durfte oder maximal Kniestrümpfe trug. Als Mädel auf dem Land verbrachte ich so viel freie Zeit wie möglich draußen, weil es mir die satten Wiesen damals wie heute einfach angetan haben. Und meinen „ich sammele was-Tick“ hatte ich auch schon sehr früh entwickelt. Was natürlich oft dazu führte, dass ich vor lauter Sammeleifer das Brennnesselfeld übersah, in das ich geriet. Oftmals waren meine Beine am Abend richtig rot. Nein, Brennnesseln konnte ich als Kind gar nichts abgewinnen. Es war ein garstiges Kraut für mich!

Erst Jahrzehnte später sollte sich diese Einstellung dank des Biologen und Geologen Arnulf ändern. Seit einigen Jahren veranstalten wir zusammen mit meiner Kochschule im Frühjahr Kräuterwanderungen. Er erklärt bei den Führungen über Felder, Wiesen und durch Wälder meinen Kunden unsere heimischen Wildkräuter. Er weist ebenso auf Verwechslungsgefahren hin als auch auf die Merkmale, wie Kräuter richtig zu bestimmen sind. Wir finden innerhalb dieser dreistündigen Wanderung im Frühjahr bis zu dreißig verschiedene Kräuter. Anschließend werden sie in der Kochschule zu ganz besonderen Gerichten verarbeitet und gegessen. 

Wie so oft stimmt auch beim Sammeln die Redewendung: „man sieht nur, was man weiß“. Deshalb weiß ich heute, dass Sauerklee im schattigen Gebüsch, der Waldmeister in Laubwäldern und der Gundermann eher im trockenen Halbschatten wächst. Und ich freue mich mittlerweile jedes Frühjahr auf die ersten Brennnesselspitzen, die überall leicht zu finden sind.

Schon in der Volksheilkunde von Hildegard von Bingen und Sebastian Kneipp fanden sie bei den Frühjahrskuren zur Förderung der Gesundheit Anwendung. Viele der heimischen Wildkräuter wie Löwenzahn, Bärlauch oder Giersch, aber allen voran die Brennnessel entgiften und entschlacken den vom Winter müden Körper. Die Inhaltsstoffe der Brennnessel kurbeln unseren Stoffwechsel an und verleihen uns damit verloren gegangene Energie.
Mich zieht es Anfang April bei Sonnenschein aus kulinarischen Motiven zu den Brennnesseln. Denn die jungen Triebe, die gerade ein paar Zentimeter aus dem Boden spitzen, gibt es jetzt bereits reichlich, während auf den Gemüsebeeten im Garten noch lange nichts zu ernten ist. Und will man nicht auf Gemüse aus beheizten Treibhäusern zurückgreifen, hilft uns dieses vitamin- und mineralstoffreiche Pflänzchen zu allerhand schmackhaften Gerichten, für die auch der Spinat Verwendung findet.

Ich empfehle zum Sammeln unbedingt Gartenhandschuhe mitzunehmen, einen Korb, ein kleines Messer und bei warmem Wetter ein feuchtes Küchenhandtuch. Suchen Sie nach Feldwegen oder Waldrändern an kaum befahrenen Straßen und nicht an beliebten Hunde-Gassi-Wegen. Schneiden Sie an einer Stelle nicht alles ab, sondern ernten an verschiedenen Plätzen. Nehmen Sie nur so viel, sie wirklich verarbeiten und probieren erst einmal mit einer kleinen Menge aus, was ihnen schmeckt. Die Natur gehört uns allen! Sollte es schön warm sein, bedecken Sie das Sammelgut mit dem feuchten Küchentuch, denn die zarten Kräuter welken sehr schnell auf dem Weg in die Küche zurück.

Dort waschen Sie die Brennnesselspitzen gut im kalten Wasser. Es ist nicht nötig, die einzelnen Blätter abzuzupfen, denn die Stiele sind noch zart genug, um sie mitessen zu können. Dann lassen sie die Brennnessel in einem Sieb abtropfen und geben sie mit etwas Butter in eine Pfanne. Genau wie Spinat fällt der zunächst riesige Berg in der Wärme der Pfanne zusammen. Es braucht zum Würzen nur ein bisschen Salz und Pfeffer und zur Sättigung vielleicht ein Spiegelei und eine Salzkartoffel.

Die so gegarten Brennnessel lassen sich aber auch hervorragend in einer Lasagne mit Béchamelsoße verarbeiten. Klein gehackt und mit Ricotta und Parmesan vermischt geben sie eine prima Füllung in Tortelloni ab. Raffiniert ist es auch, so wie es in der Südtiroler Küche oft gemacht wird, die gegarten Brennnessel zusammen mit Quark zu Gnocchi zu formen. Nur roh eignen sich die stacheligen Brennnessel nicht zum Verzehr. Nachdem es nun nach Ostern wieder so kalt geworden ist, wärmt die Brennnesselsuppe. Hier das Rezept:

BRENNNESSELSÜPPCHEN

ZUTATEN
für 2 Personen

70 g Zwiebel
50 g Butter
2 mehlige Kartoffeln
2 Eßl. weißen Sherry 
400 ml Gemüsebrühe
300 g Brennesselspitzen
100 ml Sahne, flüssig
100 ml Sahne steif geschlagen
Salz
Weißer Pfeffer aus der Mühle
1 Spritzer Zitronensaft

In Butter geröstete Brotcroûtons
Oder in Öl angebratene Kartoffelwürfelchen

ZUBEREITUNG

Die Zwiebel schälen und in kleine Würfel schneiden. Die Kartoffeln ebenfalls schälen und würfeln. Zwei Eßlöffel der Kartoffeln für die Dekoration zur Seite stellen bzw. in Öl goldgelb anbraten.

Die Zwiebel in einem hohen Topf in der Butter goldgelb anschwitzen, die Kartoffeln dazugeben und mit dem Kochlöffel verrühren. Mit Sherry ablöschen und die Gemüsebrühe angießen. Salzen.
So lange köcheln, bis die Zwiebeln und Kartoffeln weich sind. Dann die gut gewaschenen und abgetropften Brennesselspitzen auf einmal dazugeben und mit dem Pürierstab fein pürieren. Die flüssige Sahne dazugeben. Mit Pfeffer und Zitronensaft abschmecken.

Die Suppe sollte dann nicht mehr lange kochen, damit sie ihre schöne grüne Farbe behält und nicht durch zu langes Kochen braun wird.
GUT ZU WISSEN

Von den Brennesseln sammle ich nur die oberen zarten Blattspitzen. Werden die Triebe für wenige Sekunden blanchiert und anschließend gehackt, verlieren sie ihre Brennkraft.
Brennessel übertreffen hinsichtlich des Vitamin- und Mineralstoffgehaltes den Kopfsalat bei Weitem!
ANRICHTEN

Die Suppe in Suppenteller gießen, die steif geschlagene Sahne in die Mitte geben und darüber die Brotcroûtons oder Kartoffelwürfel streuen.

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